Es ist 14:28 am Freitag und ein Junge sitzt im Zug.
Auf der Fensterscheibe direkt neben seinem Platz tragen kleine Regentropfen ein Wettrennen gegeneinander aus. Doch es gewinnt andauernd nur jener Tropfen, auf den der Junge gerade nicht gesetzt hat. Ein Sinnbild für alles, so scheint es ihm.
Der Zug steht noch immer still. Der Junge blickt durch die Tropfen auf der Scheibe hindurch, während diese die Bahnhofsbeleuchtung in tausend kleine Lichter brechen.
Er mustert das rege Treiben auf den Gleisen nebenan genau. Er ist ein stiller Beobachter, allein und ganz heimlich erklärt er sich die Dinge mit Phantasie und dem Versuch, die eigenen Sorgen in andere Gesichter zu übertragen, selbst.
Bahnhöfe sind wie kleine Metaphern für das scheinbar große Leben, denkt er sich dabei. Wie die Menschen umher wuseln, wie links und rechts auf vergilbten Fahrplänen ihre Zeiten stehen, wie sie kommen und wie sie wieder gehen, wie sich ihre Bewegungen ähneln, wie das Mädchen dort drüben, mit ihrem viel zu großen Regenschirm, tapfer gegen den Wind kämpft obgleich es doch verlieren wird und wie der alte Mann dort neben dem Kartenautomaten, dessen Herz voller Menschen ist, für ewig einsam auf die S-Bahn die nicht kommt warten muss.
In jeder Ecke, kleine Dramen voller Leid und Pech, stellt der Junge traurig fest. Er ist deprimiert und doch hat er das Leben lieb gewonnen, obwohl er oft an ihm scheitert. Er denkt sich, dass es das ist was die große Liebe aufrecht hält, dass es die Traurigkeit ist, die das Glück größer erscheinen lässt.
Und gerade als in ihm doch der Kummer überwiegt, sieht er auf Gleis 7 ein Mädchen und ein Junge händchenhaltend. Nervös und unerfahren blicken sie sich mit schüchternen Augen an. Er möchte einschreiten und diesen hilflosen Wesen dabei helfen sich zu trauen, weil er selbst die gleiche Geschichte auf eine ähnliche Weiße erlebt hat. Wie er dastand, vor dem schönsten Mädchen und umgeben von Ängsten etwas falsch zu machen.
Und dann doch, das Mädchen und der Junge auf Gleis 7 führen ihre Lippen zusammen und was folgt ist ihr erster zittriger Kuss.
Mittlerweile ist es 14:33 Uhr und der Zug steht noch immer still als das Herz des Junges für einen Moment den Schlag verliert. Ein Mädchen auf Gleis 5 steht wartend, in den Himmelblickend auf dem Bahnsteig. Der Junge wirkt nervös. Denn der Wind, er weht wie einst seine Hände durch ihr Haar. Und plötzlich wünscht er sich wieder, er könnte hinüber zu ihr gehen, noch einmal da sein, mit ihr den Tag verbringen, ein Bild davon mitnehmen, danke sagen und am Ende glücklich sein. Doch noch während der Junge dies denkt und sich all die eigenen Fehler schmerzlich eingesteht, liegt das Mädchen in den Armen eines anderen Kerls.
Im Zug, tropft eine erste Träne auf den Boden. Eine zweite überholt auf den Wangen des Junges, siegessicher sämtliche Regentropfen. Er versucht mit aller Kraft sein Blick woanders festzusetzen doch es gelingt ihm nicht und er blickt schließlich wieder hinaus zu dem Mädchen.
Dabei merkt der Junge, mit immer feuchter werdenden Augen, der Zug ist abgefahren.